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11/22/2011

erinnerungen an narzissen.

  
ich habe viel geschrieben, in letzter zeit. 

das hier wollte ich euch einfach mal zeigen.
es ist vielleicht nicht sonderlich gut, und hat auch nicht konkret was mit mir zu tun (also nicht zu viel hineininterpretieren), aber es ist mir trotzdem irgendwie wichtig.
für den ersten teil der geschichte hat mir eine weise frau drei stichworte gegeben. welche, werde ich nicht verraten. der zweite teil ist einfach so im fluss entstanden.
genug der worte. platz für noch mehr worte.



Ich

Ein Ball rollt über die Straße.
Er erinnert mich an spielende Kinder, doch kein Kind ist zu sehen. Niemand.
Vielleicht hat der Wind ihn hierher gerollt. Oder vielleicht nur die Erinnerung an das freudige Kinderlachen, das er einst vernommen haben muss.
Irgendwie tut er mir leid, wie er da so abgenutzt und getreten im Straßengraben zu meinen Füßen liegt. Wie ein Tier, das man ausgesetzt hat, weil es irgendwann zu anstrengend wurde.
Ich hebe ihn auf und schaue ihn mir genauer an. In den verblassten Schattierungen seiner Gummihülle erkenne ich die traurigen Überreste einer Familie. Sie müssen einmal sehr glücklich und bunt ausgesehen haben, wie sie sich so auf dem Ball bewegten. Jetzt sind sie nur noch Schatten ihrer selbst. Die Mutter sieht aus, als habe sie geweint. Vielleicht, weil ihr ehemals so bunter Sohn zu ihrer Linken mittlerweile fast gänzlich verschwunden ist. Nur die Schatten seines Gesichts und sein gräulich-braunes Haar bezeugen, dass er einmal da war. Sie muss ihn sehr vermissen. Ein grauenhaftes Schicksal, wenn der eigene Sohn sich einfach auflöst. Mir kommen fast die Tränen.
Du hättest ihn gemocht, diesen Ball. Wie du überhaupt alles mochtest, was andere Menschen traurig machte. Was Erinnerungen weckte. Ich glaube, du hattest so eine Faszination für Erinnerungen, weil du selbst mit deinen acht Jahren noch nicht viele gesammelt hattest. Da hast du sie dir einfach geliehen. Und jetzt bist du selbst nur noch eine Erinnerung. Noch dazu eine traurige, also eine deiner liebsten.
Ich nehme ihn also mit, diesen Ball, der so sehr dein Ball, so sehr unser Ball ist. Ich nehme ihn mit und lege ihn an dein Grab. Daneben wachsen strahlend Narzissen. Das hättest du gemocht. Genau wie den Frühling.



Du
Als ich dich das erste Mal traf, warst du winzig. So winzig wie eine Walnuss und so zerbrechlich wie eine Seifenblase. Zumindest schien mir das so. In Wahrheit warst du natürlich größer, aber deine Fingernägel hatten trotzdem höchstens Stecknadelgröße. Und du warst uralt. Dein kleiner Körper war faltig wie der eines Greises und deine Augen strahlten die Weisheit von tausend Monden aus.
Ich hatte dich schon über den ganzen Flur schreien hören und als ich das sterilweiße Zimmer betrat, in dem du in deinem Bettchen liegend den Lärm einer Feueralarmssirene verbreitetest, schlug mir mein Herz bis zum Hals. Ich näherte mich der kleinen menschlichen Sirene, welche von nun an mein Leben verändern würde, beugte mich vornüber und sah dich an. Dein Schreien verstummte sofort. Du sahst mich nur mit deinen nachtblauen Augen an, die tiefer als der tiefste Brunnen zu sein schienen.
„Er mag dich.“, sagte Mutter und lächelte. „Nein. Aber ich glaube, er versteht mich.“, sagte ich. Und da kannten wir uns gerade mal ein paar Sekunden. Und doch wusste ich es schon da. Du warst der einzige Mensch, der mich jemals wirklich verstanden hatte. Wenn ich in den folgenden Jahren zu dir an dein Bett kam und dich um Rat fragte, sahst du mich jedes Mal nur mit deinen nachtblauen Augen an und ich wusste, du hattest mich verstanden. Immer.
Du warst der Bruder, den ich niemals gewollt, aber immer gebraucht hatte. Dass dein Leben an dieses viel zu kleine Zimmer in unserem viel zu kleinen Haus gebunden war, machte mich manchmal traurig und manchmal einfach nur unfassbar wütend. Du aber warst nie traurig. Oder wütend. Dafür war es für dich umso spannender, wenn jemand in deiner Umgebung diese Emotionen zeigte. Du schienst sie geradezu aufzusaugen. Einmal fragtest du mich: „Sina, wie ist es, wenn man traurig ist?“ Ich verstand deine Frage nicht und fand keine Antwort, nur eine Gegenfrage: „Wieso fragst du das?“ Und da erzähltest du mir, dass du noch nie traurig gewesen seiest. Noch nie. Denn um traurig zu sein, müsse man ja schließlich auch irgendwann einmal glücklich gewesen sein.
Da warst du fünf.

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